Edition Ewiges Leben

Programm – Zwanzig Bücher


Koitus

„Mir fällt gerade eine gewisse Teheranische Institution ein“, sage ich, „die Teheranisch-Islamische Genussehe, auch Zeit-Ehe genannt. Hast du darüber schon gehört?“

„Nie gehört. Was hat das mit mir zu tun?“ fragt Otto.

„Nun, die Genuss-Ehe oder Zeit-Ehe wird in Teheran ausschließlich zum Zwecke des geschlechtlichen Genusses geschlossen. Nach dem religiösen Gesetz können ein Mann und eine Frau eine solche Ehe durch einen unwiderruflichen Vertrag eingehen. Notwendig sind genaue Angaben über den an die Frau zu entrichtenden Lohn sowie über den Zeitraum, welcher mindestens eine halbe Stunde und höchstens 99 Jahre betragen darf.“

„Ich verstehe jetzt“, meint Otto. „Du findest, ich sollte mein Verlangen nach geregeltem und bezahltem erotischen Genuss auch gedanklich aufwerten, zu einer Art säkularen westlichen Zeit-Ehe. Das leuchtet mir ein. Sich mit Damen des horizontalen Gewerbes zu vergnügen, gilt in meinen Kreisen als unangebracht, was mein Selbstverständnis belastet, ganz zu schweigen vom Verständnis der anderen, wenn es herauskommt. Und was auch stimmt: Beim Sex mit einer Prostituierten bezahlt man immer für die Zeit, die man mit ihr verbringt, und eigentlich nicht für das Zustandekommen des Koitus. Was ist da üblich in Teheran? Wie lange dauert denn so eine Zeit-Ehe?“

„Wie lange? Hm, der Zeitraum der meisten Genuss-Ehen in Teheran beträgt auch nicht länger als eine halbe Stunde, glaube ich.“

„Wirklich? Und was passiert? Ich meine: Nur Koitus?“

„Also für die jungen Leute in Teheran ist das Ganze eine Möglichkeit, dem theokratischen Regime ein Schnippchen zu schlagen. Da gibt es eine tolle Geschichte. Von dem Geschäftsmann aus Teheran in München, wo es um Gallium-Schmuck geht. Im Juni 2005 haben nämlich Mitarbeiter des Instituts für Neuere Archäologie im Keller einer Pension am Hallstätter See etwas Sensationelles entdeckt. In einer halbverrotteten Holzkiste fanden sich die Hinterlassenschaften eines Wiener Archäologen, unter anderem etwa 80 Schmuckstücke aus einem grauweißen Metall. Der Schmuck war unschwer als eisenzeitlich einzuordnen, und wie sich herausstellte, war er aus Gallium gefertigt, einem Metall, das schon bei einer Temperatur von unter 30°C zu schmelzen beginnt. Es ist also nicht möglich, diesen Schmuck zu tragen. Zu welchem Zweck wurden so aufwändige Schmuckstücke dann überhaupt hergestellt?

„Du fragst mich? Keine Ahnung!“

„Na, dann hör meine Geschichte: Der Teheraner Geschäftsmann kommt also nach München und zufällig führt ihn sein Weg zu der archäologischen Ausstellung und er ist fasziniert, weil aber Geschäftsmann, fragt er sich, ob man aus diesen mysteriösen Gallium-Schmuck nicht eine Geschäftsidee hervorholen könne. Er kommt drauf, wie aus der Not des niedrigen Schmelzpunkts eine kommerzielle Tugend wird. Zurück in Teheran setzt er seine Idee um, er erteilt einem befreundeten Goldschmied den Auftrag zur Anfertigung eines Kontingents an Fingerringen aus Gallium – um diese in speziell auf Angehörige der Teheraner Gothic-Szene abgestimmten Werbeeinschaltungen im Internet als Genuss-Eheringe anzupreisen. Einschaltungen, in denen die Vergänglichkeit der Liebe auf düster-romantische Weise mit anakreontischen Motiven verknüpft wird. Das Projekt wird zum durchschlagenden Erfolg, womit niemand gerechnet hätte, nicht einmal unser Geschäftsmann.“

„Wow – es geht um die Zeit, nicht um den Akt, den Höhepunkt, sondern um die Dauer, Schmelzdauer, Erregungsdauer“, sinniert Otto. „Aber wer hätte gedacht, dass diese altvaterische islamische Institution, die auf den Propheten zurückgehende Zeit-Ehe in Form der heuchlerischen, Prostitution kaschierenden Teheranischen Genuss-Ehe ausgerechnet in Kreisen der Teheraner Gothic-Jugend auf begeisterte Akzeptanz stoßen würde? Und es wäre der Geschäftsidee freilich nicht jener unglaubliche Erfolg beschieden gewesen, über dessen Ursachen Fachkreise der Soziologie sich seit Jahren in Teheran den Kopf zerbrechen, wäre der Verkauf der Genuss-Eheringe auf die mehr als überschaubare Gothic-Szene in Teheran beschränkt geblieben. Aus gesicherten Internetquellen weiß ich, der Absatz der Gallium-Ringe bei der Teheraner Jugend hat vorübergehend Ausmaße angenommen und Wirkungen erzeugt, die mit der altehrwürdigen Institution der Teheranisch-Islamischen Genuss-Ehe so wenig zu tun haben wie eine Fronleichnamsprozession mit der Loveparade.“