Textauszug: Friedhof 2048 – kapitel 2 einweihung
Ihr seid vergesslich geworden, ich nicht. Von dem Tag, an dem ihr mich kalt gestellt habt, stammt mein Schwur: Niemals werde ich vergessen, keinen von euch, keine eurer Taten, so wie ich auch meine nicht vergesse. Selbstvergessen vegetiert ihr irgendwo, so wie auch ich nur mehr noch dahinvegetiere. Ich müsste euch zusammenrufen, im Café Lichtblick vielleicht, im Netz würden euch meine Worte niemals erreichen.
Die Florian-Einspieler-Passage bog direkt nach dem Gebäude, in dem sich unser Institut vom Menschen befand, von der Bahnhofstraße ab. Sie war nicht mit dem Auto durchfahrbar, an eine Hauseinfahrt schloss ein Durchlass zum Busbahnhof an, insgesamt war sie keine fünfzig Meter lang, es handelte sich um das Kleinste und Unbedeutendste in der Stadt, was man nach einem Dichter benennen konnte. Keine Straße, nicht einmal eine Gasse. Ihr habt es zugelassen! Ihr habt ihm nicht mehr Wert beigemessen! Florian hatte zwei Gedichtbände veröffentlicht und für seine Übersetzungen den höchsten Preis erhalten, den man in Seeland als Übersetzer bekommen kann. Seine Doktorarbeit über unseren hochberühmten späteren Literaturnobelpreisträger erschien bei einem großen Verlag in Deutschland und galt als Standardwerk. Das half ihm aber nicht, nach seinem Suizid durch Erhängen für seinen Namen eine bessere Straße oder Gasse in Seestadt zu bekommen, weil ihr zu bequem wart, ihm mehr Straßen- oder Gassennamenehre zu verschaffen, ihr habt ein Bequemlichkeitskartell gegen ihn gebildet, so zerstritten ihr untereinander gewesen seid. Florian war beliebt, unheimlich gut kam er bei den Studierenden an, am meisten bei den Mädchen, das war damals schon heikel, wie ihr noch wissen solltet, aber er fing nie mit einer was an, davon seid ihr ausgegangen, aber wie ihn seine Groupies angehimmelt haben, das hat doch euren Neid erregt, genauso wie euch ärgerte, dass er mit allen literarischen Größen Seelands auf Du und Du war. Im Literaturbetrieb Seelands schätzte man ihn als Tausendsassa, man nannte ihn jedermanns Impresario. Aber zählt das bei der Vergabe von Straßen- und Gassennamen? Ich hätte eine Ahnung in meiner Erinnerung bewahrt, wenn jemand Bestimmter von euch es gewesen wäre, der eingefädelt hat, dass die hässliche Passage, vorher namenlos, nach ihm benannt wurde. So aber müsst ihr alle zusammen es gewesen sein, jeder von euch absichtslos, gemeinsam ergabt ihr eine Absicht, in eurem gemeinen Gedächtnis.