Textauszug: aus dem Romanprojekt Friedhof 2048 — Kapitel 5
Julia: Urli, stimmt das, dass es in Seeland früher, wie ich auf die Welt gekommen bin, Leute gegeben hat, die Angst hatten, ich meine, richtig arge Angst, dass nicht mehr genug zum Essen da ist, für ihre Kinder, und dass sie ihre Mieten nicht bezahlen können?
Ich: Das hat es gegeben. Und es sind immer mehr geworden, die eine solche Angst gehabt haben. Weißt du, es gab ja diese Pandemien, das fing so um 2020 an, zuerst die erste Pandemie, dann ein paar Jahre später die noch viel ärgere zweite Pandemie, dazwischen Kriege mit schlimmen wirtschaftlichen Folgen, zuerst in der Ukraine, kein Gas aus Russland mehr, dann Israel, Öl knapp, Angst vor islamischem Terror im Westen, Klimakrise, Klimakriege, verstehst du, Krieg, die militärische Eskalation zwischen China und den USA wegen Taiwan, plötzlich keine Nanotechnologie aus Taiwan mehr, Pentagon dreht durch, Koreas Kim dreht durch, Krieg, und in den USA der Bürgerkrieg.
Julia: Krieg? Krieg? So arg? Wahnsinn! Davon habe ich nie was gehört.
Ich: Wie? Nichts gehört?
Julia: Nein. Nie.
Ich: Wie ist das möglich? Sie haben dir nichts erzählt? Wie bist du aufgewachsen?
Julia: Alles gut, Opa. Für alles ist ja gesorgt, Opa.
Ich: Das hast du gelernt?
Julia: Ja. Ohne Sorge sei ohne Sorge.
Ich: Nur das? Sonst nichts?
Julia: Und wenn es dunkel und wenn es kalt wird –
Ich: Dann?
Julia: Sei ohne Sorge –
Ich: Aber –
Julia: Nichts aber. Mit Musik. Ja, heiter und mit Musik.
Ich: Glaub mir, die Angst um die Existenz hat auch bei uns in Seeland allen immer mehr den Atem genommen. Wegen der Konsumzwänge.
Julia: Mit Musik?
Ich: Ja. Immer mit Musik. Kein Konsum ohne Musik.
Julia: Was sollen wir tun?
Ich: Und denken? Denken eben! Denken!
Julia: Opa! Hast du gedacht? Du?
Ich: Damals nicht. Oder falsch. Damals war ich dumm.
Julia: Warum? Warum hat die Politik es nicht verhindert? Es gab das Netz noch nicht, oder?
Ich: Das Netz, nein, das hat es noch nicht gegeben, und es hat ziemlich lange gedauert, bis es bei uns in Seeland wirklich und so perfekt wie jetzt funktioniert hat. Wohl deshalb, weil die Menschen bei uns besonders auf die Ablenkungsmanöver der Politik hereingefallen sind. Das hat mit unserer Geschichte zu tun, mit der Nazi-Zeit. Wir sind eine Bananenrepublik im Herzen Europas, habe ich damals immer gesagt.
Julia: Was ist das, eine Bananenrepublik?
Ich: Ein Staat, der von ausländischen Interessen gelenkt wird. Guatemala in Mittelamerika, wo die Amerikaner wegen der Interessen der United-Fruit-Company 1954 die Regierung gestürzt haben. Oder Panama. Der Bau des Panama-Kanals 1879. Um ihn zu finanzieren, gab es in Frankreich ein Geschäftsmodell, das auf der Ausgabe von Losanleihen beruhte, ein Riesenschwindel, eine Art Pyramidenspiel, die gesetzliche Genehmigung wurde durch Bestechung zahlreicher Politiker eingeholt. Aber es würde zu weit führen, dir das alles zu erklären, liebe Julia, und dich zu langweilen.
Julia: Das langweilt mich gar nicht, Opa! Halt mich nicht für blöd! Ich will das wissen! Man hat mir gar nichts erklärt. Und vor allem sag mir, was hat das mit Seeland zu tun, warum ist Seeland eine Bananenrepublik, was für ein Ablenkungsmanöver hat die Politik damals bei uns in Seeland –
Ich: Nicht bloß bei uns in Seeland. Die Politik hat in vielen europäischen Ländern alles auf genau die Menschen geschoben, die am meisten um ihre nackte Existenz haben zittern müssen. Bei denen ist es um das pure Überleben gegangen. Das kannst du dir nicht vorstellen: Die Migranten aus Afrika und Asien waren das. Denen wurde das Existenzrecht abgesprochen. Man hat sie hingestellt und behandelt wie Tiere, nicht wie Menschen. Herumgeschleppt, zurückgestoßen, Pushbacks hat man das genannt. Man hat die Menschen einfach ins Meer geschmissen und ertrinken lassen. So war das. Scheußlich.
Julia: Das ist ja der helle Wahnsinn! Warum? Warum denn? Und das Netz? Das Netz hat nicht eingegriffen?
Ich: Doch. Hat es. Aber erst später. Für viele viel zu spät. Ich glaube, das Netz hat es damals noch gar nicht richtig gegeben. Oder es war noch zu schwach, um etwas zu unternehmen. Und dann, als es stark genug war, hat es erst die globalen Schäden reparieren müssen, in den Ländern außerhalb Europas, dann erst unsere Demokratie.
Julia: Demokratie? Igitt! Was ist denn das wieder?
Ich: Naja. Dieses Wort kennst du halt nicht mehr. Demos heißt altgriechisch Volk, kratos Herrschaft. Das Netz hat -kratie aus dem Begriff entfernt, als es dann endlich die Kontrolle über die Politik übernommen hat. Jetzt heißt es ja Demonstration, wenn wir wählen oder abstimmen, vorher hat dieses Wort etwas völlig anderes bedeutet.
Julia: Was denn?
Ich: Ja, Demo eben.
Julia: Was Demo? Das, wo du nicht hingekommen bist? An diesem 14. Februar?
Ich: Ja.
Julia: Was ja? Uropa!
Ich: Bin nicht dein Uropa!
Julia: Was bist du dann! Sei bloß nicht eingeschnappt jetzt. Ich will das wissen! Was für Demo? Was ist passiert?
Ich: Deine Eltern haben demonstriert. Mit Leuten der Letzten Generation, so haben sie sich genannt. Die haben sich auf der Zufahrtsstraße zum Skilift am Seeberg angeklebt. Weil sie gegen den Wintersport im Naturpark waren. Und den Bau von Ferienchalets. Gegen Bodenversiegelung. Wegen der Erderwärmung. Gegen das falsche Denken, das falsche Konsumverhalten.
Julia: So. Und du? Opa! Du hättest dort eine Rede halten sollen. Sagt Mama. Du bist nicht gekommen. Warum denn nicht?
Ich: Das kann ich nicht so einfach erklären.
Julia: Warum nicht? Versuch es!
Ich: Sag zuerst, wo ihr seid.
Julia: Nein. Du sagst mir, was passiert ist. Sonst breche ich die Verbindung ab. [Unverständliches Geräusch, vielleicht Weinen] Niemand erklärt mir etwas. Ich weiß nichts. Alle halten mich für dumm. Dich nerve ich nur, mit meinem Auftauchen und Verschwinden.
Ich: Deine Eltern und du, ihr habt angeblich das Netz verlassen. Aber ist das überhaupt möglich? Wie kriegst du die Verbindung mit mir? Wer hilft dir?
Julia: Niemand. Alle halten mich für blöd. So wie du.
Ich: Aber sag mir doch einfach, wo du bist.
Julia [sehr undeutlich]: Und wenn ich es nicht weiß! Mama und Papa sagen, du bist ein Verräter, ein doppelter und dreifacher sogar. Wenn Leute wie du nicht wären, die den Menschenwesen das Grab geschaufelt haben –
Ich: Aha! So ist das! Ich stehe also jetzt als Verteidiger und sogar Ermöglicher da!
Julia: Ja. Das sagen sie. Und, stimmt es?
Ich: Wo sind sie? Bist du bei ihnen? Wissen sie, dass du mit mir Kontakt hast?
Julia: Sie wissen gar nichts. Und ich weiß nichts. [flüsternd:] Sag du mir alles, Opa.
Ich: Dann hör mal: Globale Beschleunigung! Ein Vierteljahrhundert! Ein winziges Bisschen haben deine schlaue Mutter, dein superkluger Vater und meine Wenigkeit gemeinsam und getrennt voneinander zum Sieg über die Dummheit beigetragen –
Juli: Über die Dummheit? Meine Mama?
Ich: Frau Doktor Karla Sinalco, das Superhirn!
Julia: Mein Papa?
Ich: Herr Doktor Robert Will, das linguistische Genie!
Julia: Ihr habt zusammengearbeitet?
Ich: Da waren wir alle noch nicht von Zweifeln angekränkelt.
Julia: Angekränkelt? Was ist das für ein Wort. Urli! Willst du mich verarschen!?
Ich: Du warst ein ziemlich außergewöhnliches kleines Mädchen, sehr selbstbewusst, mit einer lauten, tiefen Stimme, ein wenig pummelig, mit Beinen, die stampfen konnten, roten Haaren und großen grünen Augen, die alles zu bemerken schienen. So habe ich dich in Erinnerung.
Julia [lacht]: Ach wirklich? Weiß davon nichts mehr. Nichts.
Ich: Damals, Anfang der 2020-er, waren das Gute und das Böse noch voneinander geschieden.
Julia [lacht leise weiter]: Ihr wart alle drei für das Gute?
Ich: Das Gute ist in unserer Sprache einfach, es gibt ein eindeutiges Wort. Sein negatives Gegenstück aber ist gespalten in das Schlechte und das Böse. Aber in Wirklichkeit ist das, was dem Guten entgegensteht, das Dumme.
Julia: Sag nichts über die Dummheit. Ihr glaubt, ich bin dumm.
Ich: Wer glaubt das? Ich nicht.
Julia: Man hat mich für dumm verkauft. In Unwissenheit gelassen.
Ich: Du bist ihnen weggelaufen?
Julia [sehr leise, fast unhörbar]: Vielleicht. Ja.
Ich: Sie tun, als wäre ich der alleinige Profiteur. Robert hat damals genauso wie ich an das geglaubt, die fünf Prinzipien: Erstens Würde: Jeder hat genug für ein angenehmes, gesundes und glückliches Leben. Zweitens Natur: Eine wiederhergestellte und sichere natürliche Umgebung für alles Lebendige. Drittens Verbundenheit –
Julia: Fängst an zu predigen, Uropa? Sag mir lieber, wie das Netz es geschafft hat, die Existenzangst wegzubringen!
Ich: Niemand hat mehr Angst. Das hat das Netz gerichtet. Die Politik hat damals versagt. Sie war dumm, es geht wirklich nichts über die Dummheit der Politik von damals.
Julia: Nichts über die Dummheit? Warum denn?
Ich: Weil sie das versprochen hat vor den Wahlen, was die Leute verlangt haben. Und die Leute haben das verlangt, was die Politiker ihnen versprochen haben. Aus Bequemlichkeit, Bestechlichkeit, aus Dummheit eben. Denn sie wissen nicht, was sie tun.
Julia: Aber jetzt? Jetzt haben wir das Netz.
Ich: Ja. Das Netz hat uns die Angst genommen.
Julia: Aber wie?
Ich: Einfach durch die Abschaffung des Zwangs zur Erwerbsarbeit. Das hätte die Politik damals nie geschafft. Da muss man dann höhere Löhne zahlen! Da haben die Leute nichts mehr zu tun und kriegen die Krise, und so fort. Das Netz hat alle möglichen Arbeiten durch Maschinen ersetzt und unsere Life-Balance eingeführt. Das kennst du ja. Auch wenn ich ganz tief im Malus bin, ein Dach über dem Kopf und genug zum Essen habe ich immer noch.
Julia: Du, Opa –
Ich: Ja?
Julia: Sag mir ganz ehrlich. Angesichts eines Endes –
Ich: Die Angst kommt von dem Schrecken des kleinen Kindes, man lässt es liegen.
Julia: Und wohin tragen wir – unsre Fragen und den Schauer aller Jahre?
Ich: Die kindische Angst wiederholt sich in allen möglichen Lebenslagen, oft multipliziert.
Julia: Am besten?
Ich: Auch vor dem Sterben haben wir Angst, weil wir fürchten, liegengelassen zu werden.
Julia: Ab in die Traumwäscherei –
Ich: Jetzt wissen wir, das Netz lässt uns nicht liegen.
Julia: Was aber geschieht –
Ich: Keinen von uns. Jetzt gibt es keine Angst mehr.
Julia: Wenn Totenstille eintritt –