Textauszug Romanprojekt Friedhof 2048 — Kapitel 7 nacht
Am 10. Mai 2016 knickte der Strick in der Scheune den Kopf des Universalgenies. Schuldlos brutal lag die Stadt in ihrem nackten Licht.
Die Selbstmordfolgen merkte man lange nicht. Heute sind nächtens die Lichter leer, schimmern weißlich bei Bedarf, der Bedarf wird weniger, die Lände schwindet, wir lassen Wasser in das Werth, es wachsen die Weiden wieder, säumen eine leere Fläche. Von meinem Balkon in der Seegasse blicke ich zu Mitternacht auf eine leere Fläche im Süden, auf zwei Flächen, geteilt durch einen flussbettartigen Spalt, die Bühne und der Zuschauerraum, dazwischen der Orchestergraben – mein vergessenes Theaterstück.
Erster Akt
Szene 1 — Stille der Nacht —
Bühne mit Gräberreihe vor Videowand mit flackernden Kerzen und Grabsteinen wie Profilbildern, im Halbminuten-Rhythmus fahren Postings auf und ab, mit Sätzen wie:
„Schläfst du?“ „Ja, ich schlaf jetzt…“, „dann schlaf gut…“, „ruhe sanft…“
Die absolute Stille muss mind. 4,5 Min. anhalten. Dreimal gibt es einen Flash, in dem der ganze Bühnen/Facebook-Raum sekundenlang in Licht getaucht ist.
Zwischendurch erscheint Cerberus in seinem blauen Arbeitskittel mit seiner Scheibtruhe, erst langsam stärker angeleuchtet. Bläst Kerzen aus, zündet welche an. Gemächlich lädt er dann und wann etwas rauf und runter.
CERBERUS: Es gibt immer was zu tun.
Sogar in der Nacht.
Das ist die Stadt, die niemals schläft.
Diese Stadt ist ein Friedhof.
Dass diese Stadt ein Friedhof ist, sieht doch jeder.
Aber versteht nicht leicht einer.
Es ertönt anschwellend eine Melodie, erkennbar als Klingelton. Cerberus wird hektisch, kramt, findet das Handy, winkt ab. Er hockt sich auf die Scheibtruhe, zündet sich eine Zigarette an.
CERBERUS: Das war die Alte, die Woerkel. Um die Uhrzeit, was will die? Um 3:03. Bei uns. Aber bitte! In New York ist jetzt vielleicht 9:03 p.m.
Es läutet wieder. Und wieder. Cerberus raucht weiter. In aller Ruhe. Dann wirft er die Zigarette weg. Spricht in sein Handy. Von der Gegenseite hört man ein metallisches Geschepper und Rauschen, wie aus dem All.
CERBERUS: Ja.
Was ist…?
Ja.
Ja. Ja. Ja.
Ja bitte.
Bitte?
Wie bitte???
Aber bitte!
Er wirft das Handy weg. Spuckt drauf.
CERBERUS: Die Alte spinnt.
„Bitte! Danke!“
So. Jetzt gibt’s zu tun!
Er steigt auf sein Fahrrad und versucht sich mit dem Fahrrad und der Scheibtruhe zugleich fortzubewegen. Das gelingt nicht.
CERBERUS: So eine Scheiße. Das funktioniert nicht. Die Technik. Bei uns Firma Facebook ist alles Technik. Alles automatisch. Alles programmgesteuert. Jaja. So siehts aus!
Er lässt Fahrrad und Scheibtruhe stehen. Gibt ihnen noch einen Fußtritt. Schlendert gemächlich zwischen den Gräbern.
CERBERUS: Als ich ein Jüngling war,
da war das Leben sehr bequem, richtig angenehm …
Habe ich kein Facebook gebraucht.
Das war damals noch direkte Demokratie.
Ich sag‘s ja: Diese Stadt ist ein Friedhof. Tot sind hier alle. Scheintot.
Denn im Grunde genommen heißt Facebook nichts anderes als:
Scheintot.
Er dreht den Hintern dem Publikum zu, lässt es knallen.
CERBERUS: Wer lebt, der liebt, lacht, ist lustig. Der braucht kein Facebook.
Als ich ein Jüngling war,
da war das Leben sehr bequem, richtig angenehm…
Den Mägdlein hab ich‘s richtig besorgt, nicht im Facebook „gepostet“.
Meine männlichen Brusthaare habe ich allen gezeigt.
Nix Selfie. Live! Das war damals noch direkte Demokratie.
Ja! Diese Stadt ist ein Friedhof. Das hier ist Schein!
Und ihr dort: Tote seid ihr.
Scheintot!
Er bleibt plötzlich stehen. Reißt das Tuch von einem Grabstein.
CERBERUS: Nur der hier ist: ‒ tot. Wirklich tot. Nicht scheintot. Tot-tot.