Edition Ewiges Leben

Programm – Zwanzig Bücher


Deutsche in Afrika

Mein älterer Bruder Karli und ich, wir haben von unserem Großvater die Neigung zu afrikanischen Frauen geerbt, die sonst in unserer Kärntner Heimat selten anzutreffen ist. Vielleicht sind wir die einzigen mit dieser Veranlagung im Gebiet der Saualpe. Bei meinem Bruder Karli hat sie wahrscheinlich zu einem für ihn fatalen Ende geführt, bei mir zum Glück nicht. Dafür hat er seine Neigung viel mehr ausleben können als ich. So will es der liebe Gott, je größer die Wollust, desto größer die Strafe. Unser Großvater Dr. Carl Dietz ist in demselben Jahr geboren, in dem die Deutschen ihre Kolonien in Afrika verloren haben. Sein ganzes Leben lang beschäftigten die ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika seinen Geist. In den 1960er Jahren ist er einmal mit einer deutschen Reisegruppe in Kamerun und in Uganda gewesen. Dort hat er Nashörner, Gnus, Leoparden und Mengen von nackten Negerinnen fotografiert. Mein Bruder Karli und ich mussten ihm bei den Diavorführungen in Diex und Umgebung assistieren und abwechselnd auf das Knöpferl drücken, damit die Bilder von den Rhinozerushörnern, den Zotteln der Gnus und den Titteln der schwarzhäutigen Frauen umsprangen, die der Großvater unter anderen auch den Bauern auf der Saualpe vorführte. Später reiste der Großvater mehrmals alleine nach Tansania, auch nach Namibia kam er und brachte uns kleine Negeridole aus Holz und Fotos von Buschmännerfrauen mit dem charakteristischen Steißbein und Hottentottinnen mit ihren Hottentottenschürzen mit. Nur in Togo war er nie gewesen. Unser Großvater hat seinen gummibehandschuhten Arm mit der Faust voraus tagein tagaus den Kühen in das Loch geschoben und so sein Geld für seine Afrikareisen verdient. Mein großer Bruder Karli hat seine afrikanische Frau bestimmt immer von hinten penetriert, während ich gerne die Missionarsstellung bevorzugt hätte, weil Karli auch Tierarzt studiert hat wie der Großvater, ich aber Theologie.

Nach meiner Matura hat mich mein Bruder Karli mit nach Frankreich genommen. Wir waren in einer roten Renault-Ente mit zwei grünen Einmannzelten unterwegs. Später haben wir behauptet, wir hätten die zwei Schwestern an der Côte d’Azur, in Biarritz, in Paris oder in Bruxelles aufgegabelt, in Wahrheit ist es bei einer Kleinstadt genau im Herzen von Frankreich passiert, dass ich meine Unschuld verloren habe. Ich weiß nicht einmal mehr den Namen der kleinen französischen Stadt im französischen Niemandsland. Selbst die wirklichen Namen der Schwestern sind nicht sicher. Selbst ihre unwirklichen nicht. Die größere nannten wir Aisha, Baisha oder Sabaisha, die kleinere Minora, obwohl sie nur eine Spur kleiner war. Ich erinnere mich, wir saßen in dem billigen afrikanischen Lokal, das sie führten, in dem mittelalterlichen Stadtkern der selbstvergessenen Stadt mit dem vergessenen Namen. Flüsternd beratschlagten wir, woher sie stammen könnten, ich tippte auf Uganda oder Tansania, Namibia kam nicht in Frage. War doch die eine schöner als ein Engel und ihre Schwester zärtlicher als eine Mutter. Nichts an ihren unter bunten Tüchern, Waxprints mit eingenähten Muscheln und Holzstückchen, versteckten Leibern ließ Steißbein oder Hottentottenschürze erahnen. Karli vermutete Kamerun, doch es war Togo. Das verrieten uns die beiden, als wir als einzige Gäste noch da saßen. Unser Tuscheln und unsere Blicke und ihr Tuscheln und ihre Blicke hatten in ein gemeinsames Lachen gemündet. Karlis gepflegtes Französisch half, sie begleiteten uns bereitwillig auf den Zeltplatz. Die größere war die Schönere, natürlich kletterte sie zu Karli ins Zelt. Ich hatte Angst, vor dem Zelt im schwachen Schein berührte ich ihre Lippen mit meinen Fingern, wollte sie gerne küssen, sie ließ es zu und stupste mich hinein, drinnen war alles unverständlich schwarz, das Flüstern ihrer Worte in ihrer Sprache, ihr Geruch, ihre Haut in meinen Händen. Mein nackter dünner Körper zitterte erbärmlich, unfähig zu seiner Mission. Sie stillte meinen Durst mit ihren Fingern. Sonst gab es nichts, außer ihr beider leisem Singen nach dem Ende des Stöhnens. Und in der Früh waren sie weg, auch meine Kamera und zweitausend Francs aus meiner Börse.

Wie himmlische Königinnen zogen sie am Tag meiner Hochzeit bei uns ein, am Mariähimmelfahrtstag in Diex, eben als die Glocken zu läuten begannen und die Sonne das Kirchendach erklommen hatte, so dass ihre schwarze Haut wie die goldenen Schellen an den darum gewickelten bunten Tüchern in erdigen Tönen, leuchtendem Gelb, Rot, Grün und Orange, freudig glänzten. Es freuten sich alle über die unerwarteten fremdartigen Schönheiten, der Großvater vielleicht am meisten, der steinalte Afrikakenner, und Erika, meine blonde Braut, vielleicht am wenigsten, denn die Gotteskinder aus Afrika stahlen ihr die Show. In der ersten Kirchenreihe saßen sie neben meinem Bruder Karl rechts und links gleich dem Großvater. Das gab ein Tuscheln und ein Schielen nach vorne in der Diexer Kirche wie vielleicht noch nie. Die Diexer Überraschung war schon fast perfekt und hätte nur mehr übertroffen werden können, wenn eine der beiden Negerprinzessinnen aus dem fernen Staate Togo nach vorne an den Altar getreten wäre und sie mir ihre Hand zum Bund fürs Leben gereicht hätte statt Erika. Denn die Überraschung war Karls Hochzeitsgeschenk. Der greise Pfarrer in seiner Predigt sprach vom Geheimnis der bewahrten Würde des Weibes, jungfräulich aufgefahren in den Himmel ist sie, stellvertretend für alle Mütter auf Erden, gleich welcher Hautfarbe, und er und alle Diexer blickten zu den schwarzen Madonnen in der ersten Reihe. Außer Karl wusste keiner, weshalb sie wirklich da waren, auch er konnte sich nicht gewiss sein, ob sie dieselben waren wie die damaligen, obwohl er Kontakt gehalten und die Einladung auf die damals hingekritzelte Adresse geschickt hatte aufs Geradewohl. Nach dem Essen verlief sich die Festtagsgesellschaft, vor dem Abendprogramm. Karl und den Großvater zog es in den Wald, beide sind ja Jäger. Ich musste erst Erika abliefern und kam später nach. Da sah ich die junge Frau alleine auf der Lichtung am Teichufer stehen, ganz ohne Kleider, bereit zum Bad, den Kopf erhoben, die Nüstern witterten den Alten im Gebüsch und den Jungen oben über dem Felsvorsprung. Welche der beiden, hätte ich am Gesicht vielleicht erkennen können, doch streckte sie den Körper, ich sah sogar auf ihrer Haut den Schweiß, aber erkannte sie nicht. Das Blinken der Gläser im Gebüsch, mir war, als schlüge der Leopard die Gazelle.

Ganz aus den Augen verloren habe ich meinen Bruder Karl, bevor er die ominöse Ehe mit der geheimnisvollen Tutsi eingegangen war. Sie ist eine Tutsi, hatte der Großvater bei allen meinen Besuchen hervor gestoßen, er hat eine Tutsi, schon fast ganz in die Sprach- und Erinnerungslosigkeit gefallen, eine Tutsi, konnten seine greisen Lippen bloß mehr dieses eine Wort zischen: Tutsi… Tutsi. Ohne allen kirchlichen Segen, zeterten die Tanten und die Anverwandten, wenn bei meinen seltenen Besuchen aus Wien von der Ehe des Bruders die Rede war. Aber nie mehr bekam ich ihn zu Gesicht, auch meine ominöse Schwägerin nicht, obwohl Völkermarkt nicht weit war, nie wurde ich in das Haus des Bezirkstierarztes eingeladen, immer war er verreist und sein Haus verwaist, wenn ich bei ihm anläutete, nicht ein einziges Foto mochten mir die Tanten und Anverwandten zeigen, das meine Zweifel und zerstreut oder meinen Verdacht erhärtet hätte. Und erst als der Großvater es hinter sich gebracht hatte, weil er im vierundzwanzigsten Jahr seines Ruhestands noch einmal ausgefahren war, „dem Kuchlbauer seine Kuh kalbt“, und der Wagen über den Rain sich zwei Mal überschlagen hatte, und der Sarg mit seinen Überresten sich sachte in die Tiefe senkte, derweil der Männerchor eine windische Weise summte, da sah ich den Karli mit schneeweißem Haar an der Kirchenmauer im Schatten stehen, schwarz war er angetan wie wir alle, aber er war ohne Tutsi.

Stoßweise kam es aus ihm, es zischte, wie aus einem kaputten Reifen, hassweise, dazwischen gestockt die Trauer, wir standen Arm an Arm im sicheren Schatten, denn die Sonne war wie in der Kalahari an diesem Diexer Augusttag. Sie hat mir alles genommen, sagt er, sie hab ich immer geliebt, sagt er, aber nicht gekannt, sagt er, an sie habe ich geglaubt, sagt er, aber ich habe sie nicht durchschaut, sagt er. War sie es, wagte ich nicht zu fragen. Kein Meer ist so wild wie die Liebe, sagte er, sah mich an, als sähe er mich das erste Mal. Solches aus dem Mund meines Bruders war mir fremd, er roch anders als früher, die Sonne hatte den Schatten des Kirchturms gefressen, Karl hatte eine dunkle Brille aufgesetzt, wieder murmelte er, Meer, so wild wie die Liebe. Mir kam es nicht echt vor. Wie unerwartet dieser Tod zu ihm gekommen sei, sprach der Pfarrer; wir hatten geglaubt, der Großvater wäre unsterblich. Er hat den Tod gesucht, ja, er ist ihm nachgefahren, auf der steilen Straße zum Kuchlbauern. Bis zur Hochzeit, sagt Karl, waren wir wie zwei fremde Vögel, sagt er, war sie ein Vöglein in meinem Paradies, sagt er, willfährig, sagt er, dann wie verwandelt, sagt er, eine Wesensveränderung, sagt er, hat ihr wahres Gesicht gezeigt. Was für Gesicht, Aishas, Baishas oder Sabaishas, möchte ich fragen, oder das der kleinen Minora? Vögelchen, Vögelchen, sagt er, im Völkermarkter Amtstierarzthaus, hat ihn angezeigt, sagt er, wegen Misshandlung, sagt er, wegen Verweigerung der ehelichen Rechte, sagt er, wegen Rassismus, sagt er, wegen Fotos, sagt er, wegen Kinderpornographie, sagt er, wegen der Fotos, sagt er. Was für Fotos? Sagt er nicht. Schwarz ist sein Hemd, weiß im Schweiß sein Gesicht, lohweiß das buschige Haar. Früher hat er anders gesprochen, gerochen, jetzt ist er gebrochen. Eine Respektsperson war er, sagt der Pfarrer vom Großvater. Eine Respektsperson, mein Bruder Karl, sehe ich, reist nach Afrika, der Rückgewinnung wegen, der Rückeroberung wegen, der Rückführung wegen, des schmalen Antilopenleibes seines Weibes, sehe ich, er besteigt den Flieger nach Kapstadt, nach Nairobi, nach Douala. Ich sehe ihn schon, wie er an Bord der Lufthansa alias Star Alliance sich den Kaffee einschenken lässt von einer braunen Gazelle und wie sich sein Gesicht verzieht, verzerrt. Hasserfüllt, lusterfüllt, schmerzerfüllt, sehe ich, schon am Friedhof in Diex, stumm am Grab des Großvaters, ihn im Taxi in Windhoek, in Dar-es-Salam, in Jaunde mit großgewachsenen einheimischen Chauffeuren, stämmigen Bodyguards, smarten Polizisten. Sehe ihn in Sansibar lässig mit einer Zigarre im Mund von der Hotelterrasse aus auf den Meeressaum des Indischen Ozeans blicken. Sehe ihn schließlich in Lomé in der Marché au Féticheurs, umringt von stämmigen jungen Kerlen, sie tauschen Fotos und Geldscheine, sehe ich, Karl hat einen gelben Schlapphut am Kopf, sehe ich, sein weißes Haar klebt in nassen Strähnen bis zum Halsansatz, seine Brille ist beschlagen, er sieht nichts, stolpert im schlammigen Morast, eine kugelleibige schwarze Madonna in einem Kittel aus buntem Tuch in erdigem Ton, leuchtendem Gelb, Rot, Grün und Orange, mit eingenähten Muscheln und Holzstückchen, führt ihn zu ihrer Bude, wo sie Voodoo-Puppen verkauft, ich sehe nichts mehr, der Film reißt, die Verbindung bricht ab, ich bin eingenickt, Erika rüttelt meine Schulter, reicht mir eine Tasse Tee, ihr spätblondes Haar, ihr gütiges Lächeln, ich nippe an dem bitteren Magenkräutergebräu, morgen muss ich mindestens… denke ich, was, was, ich muss was korrigieren, aber was, was? Im TV laufen die 22-Uhr-Nachrichten, an der süd-sardinischen Küste, einer vorgelagerten Insel, ist ein Boot gestrandet, die Insassen sind alle tot, ich sehe es, wie man es sonst nicht sieht, sie heben die Leichname aus dem Unterdeck, wo sie eingelegt waren wie die Sardinen, zwischen Kot und Erbrochenem, sie bergen sie Stück für Stück, weiß sind die Tücher, die sie bedecken, schwarz sind die Körper, nur der unterste der Leiber, den sie als letzten hervorholen, ist weiß wie Elfenbein, ich sehe, wie man es sonst nicht sieht, das Gesicht des Toten, und ich ahne es schon, es ist das Antlitz meines großen Bruders Karli. Wie die Männer seinen Leib anpacken, ergreift mich an der Seite ein Schmerz, die Haut brennt, es presst mir die Luft ab, es geht zum Herzen, ich möchte nach Erika rufen, ein Infarkt, der Notarzt, mir wird schwarz vor den Augen, alles erlischt, Erleichterung, Erlösung, wie sie den Leib des weißen Mannes am Strand dort abseits auf den Sand gelegt haben, und in dem Augenblick, in dem sie von ihm ablassen, als er vom schwarzweißen Haufen der anderen getrennt in aller Seelenlosigkeit allein am Strand liegt, breitet sich in mir von der Mitte ausgehend eine Leichtigkeit aus, eine Welle aus reinem Glück.